Apti Bisultanov

Aus: Schatten eines Blitzes, Gedichte von 1982 – 2003, Kitab Verlag, Klagenfurt, 2003
Herausgeber und Übersetzer Ekkehard Maaß

Apti Bisultanov wurde 1959 in Goitschu/Tschetschenien geboren, einem Dorf von 6.000 Einwohnern, welches im März 2000 bei russischen Angriffen buchstäblich vom Erdboden getilgt wurde. Alle Handschriften und Briefe des Dichters und sein Archiv verbrannten.
Apti Bisultanov studierte Philologie und arbeitete als Dozent, Redakteur, Herausgeber, Minister und Partisan. Für sein Poem „In Chaibach verfasst“, welches den Opfern der Deportation unter Stalin gewidmet ist, erhielt er 1992 den tschetschenischen Nationalpreis.
Seit Herbst 2003 lebt Apti Bisultanov in Berlin. Er nahm am Internationalen Literaturfestival teil und war Stipendiat der Stiftung Kulturfonds. 2003 erhielt er in Rotterdam den Award der Stiftung Poets of All Nations und des N(o)vib-Verlages.



Nacht

Die Stimmen der Hunde triefen vom Regen
Die Gebete der Bäume entblößen die Trauer der Nacht
Sie erflehen einen lichten Morgen
Alle Winde sind eingeschlafen
Und die Wolken weiden frei auf den Wiesen
Alle Fenster sind blind vor Schlaf
Und die Hände der Pflüger träumen den Frühling

1982


Herbst

Text – Folklore
Musik –meine Mutter
Interpret - die Kraniche

1982


* * *

Ich lebe in einem Staat mit dem Namen Heimat

Seine Verfassung ist ein einziger Satz:
Jeder Bürger hat das Recht auf ein Grab in der Heimat

Seine Hauptstadt – das Haus der Mutter

Seine Grenzen sind
Im Osten – die Geburt
Im Westen – der Tod
Im Süden – das Licht
Im Norden – der Schmerz

Ich lebe in einem Staat mit dem Namen Heimat

1983


* * *

Eine Vollblutnacht...

So hell
Dass ein Hund seinen Schatten anbellt
Dass man den Atem des schlafenden Grases sieht
So rein

Von stiebenden Sternschnuppen
Blind werden
Stumm werden
Von stiebender Poesie
Von stiebender Schönheit
Sterben

Eine Vollblutnacht
Oder
In meinem Herzen wächst ein Gebirge

1983



* * *

Heiserer Habicht wie bist du mir gleich
Ungehört von Gott
Dein zielloser Schrei
Spreize die Schwingen
Lass uns schweigen
Ich auf der Erde
Du im Abendrot

1985


* * *

Die Herbstnacht ist so dicht
Dass sich der Nebel anzünden lässt mit einem Streichholz

Der Weg führt mich an der Hand
Dorthin, wo ich mich auflösen kann
In deiner Stille, Tschetschenien

Eingeschlummert die Mutter beim Schaukeln meiner Wiege

Herbst
Die Zeit hören
Ich weiß
Wie in Tschetschenien
Trauern
Die Türme
Die Hunde
Die leeren Felder
In der Nacht, wo sich der Nebel anzünden lässt mit einem Streichholz

In meinem Herzen erwärmen sich die Wurzeln
Neuer Gedichte
Wer mich sehen will
Sollte mich hören in solch einer Nacht

1985


* * *

Meine Gedanken -
Weiße Lämmer
Den ganzen Tag
Träge
Reglos
Eines ruht im Schatten des anderen
Sie warten auf den Abend
Bis es Zeit ist, dass man sie holt
Dann stürzen sie hungrig herbei
Und weiden sie bis zum Sonnenaufgang
Auf den blauen Wiesen meiner Träume

1985


* * *

Der Lichtschatten im Licht
Ist mein Gedanke

Liegt er lange auf meinem Herzen
Bleibt eine Spur
Gezeichnet von meinen Gedichten

Es könnte ebenso die Finsternis sein
Die sich unter meinen Fingern verteilt
Die Silben meiner Gebete
Gestreut in die Finsternis

Nur das Licht weiß

Nur das Licht kann wissen
Ob die Eiszapfen
Vereiste Blitze sind
Oder nicht
Oder warum
Zucken vor ihm
Ihre nackten Schatten?

1987


Röntgen

O dieser nackte Baum –
Als sähe ich mich selbst

Das runde Nest im Geäst
Mein Herz
Im Rippengestrüpp

Erste Schneeflocken fallen ins Nest
Die erste Trauer des Alters
Tropft
In die runde Tasse des Herzens

1988


* * *

Mich weckte
Wasserplätschern

Als wären Himmel und Erde
Plötzlich auseinandergerissen
Und eine Sündflut trüge davon
Das Land
Ich lief hinaus
Doch da

Tauten vom Dach
Langsam die ersten Tropfen
Als triebe jedes Gelenk meines Körpers
Vereist von langem Kummer
Knospen

O wie sehnsüchtig
Frühling
Erwarte ich dich


1988


* * *

Glühende Kornelkirschkerne
Fallen, Tauspritzer sprühen ...

Ein Amboss im Gras glüht und sprüht Sonne ...

Spritzer Himmelblaus sprühn von der Glut eines Adlerschreis

Die glühende Sense geht und sprüht Gischt ...

Deinen Traum mit Funken versprengend
Wärmend dich nach der nächtlichen Dusche
Weht dieser glühende Wind

In der Früh

1989


* * *

Glasklar die Mondesnacht
Glasklar die Sternennacht
Glasklar die Stille wacht
Glatter als Glas
Finsterste Finsternis finstrer als Schweigen ist
Sammle den Augenblick in eine Hand voll Glück
Glasklar die Zeit verrinnt
Finster das Leben hin

1989


* * *

In unserem Hause gibt es zwei Uhren
Die eine
Für die Gebete der Mutter
Die andere
Für die Zeit meiner Reisen
Gäbe es in unserem Hause
Eine dritte
Uhr, sie zeigte die Ruhe

1989




* * *

Ist das ein Kranich oder ein geflügelter Schakal
Schreit er vor Kälte oder Todesangst

Ich höre nur seine Stimme

1990


* * *

Die Wahrheit

Ich stritt
In den Reihen derer, die sich erhoben für sie
Als sie sich wie ein Vogel im Netz verfing

Als sie, mir den Rücken zukehrend
Fortging
Rief ich sie wie meinen verstorbenen Vater

Manchmal, wenn ich sie anschaute, sah ich sie
Wie der einzige Sohn die Augen der Mutter
Die starb bei seiner Geburt...

Die Wahrheit

Ich lief mit ihr
Über die grausamen Wege der Welt
Wie ein Kind an der Hand eines Blinden, Alten

1991


Nochtschitschö – Tschetschenien


Auf geht der Mond wie seit Tausenden Jahren
Traurig und einsam den Himmel abjagend
Heim kehren Menschen seit Tausenden Jahren
In ihre Dörfer zu feiern, zu darben
Bleibe, Tschetschenien, ein Meer von Licht
Tausende Jahre erlösche nicht

Gehen die Feinde – es bleiben die Wunden
Berge und Täler mit Schwären und Schrunden
Kommen die Gäste – bleibt uns die Freude
Freude, und nachts der Bergwölfe Heulen
Rufe der stolzen und einsamen Hirsche
Neben dem Friedhof die Gelbkornelkirsche
Meine Gedichte vor Seligkeit weinen
Minarette und Wege im Silberlichtscheine
Bleibe, Tschetschenien, ein Meer von Licht
Tausende Jahre erlösche nicht

In tiefster Stille versteckt meine Wiege
An deinem Herzen, ein Holztaubenküken
In einem Haus ohne Dach, ohne Wände
Waise, gehüllt in dein Licht ohne Ende
Wie zwischen Trümmern der Türme ein Schilfrohr
Bin an dein Licht ich gelangt, jung und hilflos
Wie kalte Schreie der Vögel verhallen
Werde ich einst in das Dunkle fallen
Bleibe, Tschetschenien, ein Meer von Licht
Tausende Jahre erlösche nicht

Gehe ich fort von dir, bleiben die Worte
Bleiben die uralten heiligen Orte
Gräber und Gras, das da wächst und sich legte
Bleiben wird ihnen der Menschen Gebete
Bleiben Ruinen, der Urahnen Stimmen
Tänze der Vögel am tiefblauen Himmel
Freude, Verzückung des Sikr-Tanzkreises
Asche und Staub der Erinnerung bleiben
Bleibe, Tschetschenien, ein Meer von Licht
Tausende Jahre erlösche nicht



Kindheiten

Meine Großmutter hat gesagt
Jemand der dreimal seine Kindheit sieht wird lange leben

Mein Vater sah seine Kindheit nur zweimal

Das erste Mal als er in den Krieg zog
Durch das Waggonfenster sah er
Sie auf dem Bahnsteig stehn
Aus ihrem abgelegenen Bergdorf war sie gekommen
Ihm Lebewohl zu sagen

Das zweite Mal sah er sie
Als die Soldaten
Ihn in die Verbannung führten
Sich umdrehend
Sah er wie sie am Dorfrand stand
Voll Angst einen Schritt weiter mit ihm zu gehn
Als sie sich später
Nachts
In einem alten Wehrturm mit wilden Tauben versteckte
Sprengten NKWD-Soldaten den Turm
Und sie kam um

Das dritte Mal
Nach der Verbannung
Als es ihnen verboten war in ihre Bergdörfer zurückzukehren
Ließ mein Vater die Familie in der Ebene
Und kam den Ort seiner Geburt noch einmal zu sehen
Auf der Rückkehr
Sich umdrehend
Fand er seine Kindheit nicht mehr

Da begriff er
Dass man nicht unbedingt
So sehr leben wollen muss

Ich war klein und verstand meinen Vater nicht
Aber jetzt scheint mir begreife ich
Seinen zu frühen Tod



P.S.

Ich sah meine Kindheit nur einmal

Als ich in den Krieg zog
Mich umdrehend


Sah ich wie sie am Tor stand
Voll Angst einen Schritt weiter zu gehen

Bomben zerrissen die Strassen

Dann
Als sie sich mit vor Schreck scheuen Kindern
In einem Keller versteckte
Warf ein mutiger Pilot eine Bombe auf dieses Haus

Mein Sohn sah seine Kindheit nie

Er zog als Kind in den Krieg


1999



Tod eines Freundes im Krieg

Das Licht der Lampe zittert
Ein Skalpell verletzt mein Ohr

Es zittern meine Wimpern
Ein Vogel zuckt und stirbt

Es zittern Stein und Asche –
Still wie im Sonnengrab

2001


Das erste Gedicht nach dem
Verlassen Tschetscheniens


Mit beiden Händen
Das Herz fassen
Diesen alten Igel
Und alle Wunden
Mit einer Schusterahle
Fest vernähn
Wie man Stiefel flickt
Und reisen
In alle Himmelsrichtungen
Und schweigen
Wenigstens
Bis ans Ende des Lebens

2002


Vakuum – Einsamkeit

Bebend vorm Finstern das Hälmchen aus Licht
Wie auf dem Trocknen ein sterbender Fisch

2002


* * *

Mit den Fingern übersetzt du
Sie, die Briefe, meines Schweigens
Jedes Wort in eine Linie
Kennst sie, die Geheimnis-Sprache
Jene, der die Laute starben
Liest ihre verstummten Laute
Wie ein Blinder liest sein Buch
Irgendeinmal
In Tschetschenien
Las, als könnte ich nicht sprechen
Ich die Keilschriftzeichen an den alten Türmen

Deine Bilder übersetz ich
Jede Linie übersetz ich
In die Zeichen meines Schweigen
Kenne deiner Finger Sprache
Las sie bis zu unserem Abschied
Mit ihm alles zu vergessen
Oder zu Erinnern
Irgendeinmal in Tschetschenien, in den Wäldern
Wenn die auf mich abgeschossene Kugel
Auf mich zufliegt
Wird zu mir
Mit meinen Fingern
Ein Marienkäfer sprechen
Und wird aussehen wie du


2003




Erinnerung

Und der von einem stürzenden Berg übrig gebliebene Felsen
Und die verwilderten Menschen auf Erden
Und der von einem stürzenden Felsen übrig gebliebene Schatten
Und die Wildnis der Gräber im Himmel
Und die Gesichter der Schachiden
Und das Himmel und Erde bespritzende Blut der Tschetschenen

Und das am Ende der Welt ausgesetzte Kätzchen
Und das Froschtränchen, von welchem das Meer überläuft
Und die am Himmel ausgesetzte Schildkröte
Und das von einem Schmetterling zerschlagene Fenster
Und dieser Abend
Und Berlin
Und ich
Und die Erinnerungen, Ameisen, die über Seele und Leib mir eilen
Und meine Gebete, die alle enden mit:
Lieber Gott, lass mich in Tschetschenien sterben!


2003



Beerdigung eines Kriegers


Und die Griffe der Bahre, und kein Bruder mehr, der sie fasst
Und der Hügel des Grabes, und keine Schwester mehr, die ihn glattstreicht
Und das Blut und der Geruch des Salböls

Und die laut unter den Füßen
Brechenden Schatten

Und die, wie Regentropfen in heißen Sand
In Leib und Seele
Eines Jeden
Einsickernden letzten Tropfen
Der letzen übrig gebliebenen Stille in der Welt

Und die im Dunkel der Seele
Brechenden Splitter des Schmerzes
Die steckenblieben in den Augen eines Jeden

Und alle Worte
Verendeten
Und blieben stecken im Hals eines Jeden
Und das Mitleid
Und die Verfluchungen

Und die zum Gebet ausgestreckten Hände
Und die nach der Waffe ausgestreckten Hände
An der Grenze zwischen Leben und Ewigkeit


2003